(Dieses Review ist weitgehend spoilerfrei, um euch die Spannung des Spiels nicht zu verderben. You’re welcome.)
Es gibt diese dramatischen Momente, die wir nicht vergessen können; in denen die Zeit im Schneckentempo zu vergehen scheint, bis sie scheinbar still steht wie in einem Foto. Einen solchen Schlüsselmoment erlebt die Schülerin Max Caulfield zu Beginn von Life is Strange. Sie beobachtet den Tod ihrer besten Freundin Chloe: ihr Mitschüler Nathan hat sie gerade erschossen. Doch als sie entsetzt mit ausgestreckter Hand zu ihr eilt, während der Körper des blauhaarigen Mädchens leblos auf den kalten Fliesenboden kippt, passiert etwas seltsames: die Zeit beginnt plötzlich, rückwärts zu laufen und Max erwacht kurz darauf in der vorherigen Unterrichtsstunde, wenige Minuten vor Chloes Tod. Während sie verwirrt ist, wie in einem sehr lebhaften Déjà-vu alles noch einmal so ablaufen zu sehen wie bisher, fasst sie einen Entschluss: sie wird Chloe retten!
So beginnt Life is Strange, ein Adventure-Spiel in dem ihr in die Rolle von Max schlüpft, die gerade in ihre Heimatstadt Arcadia Bay zurückgekehrt ist um an der Eliteschule „Blackwell Academy“ Fotografie zu studieren. Ihre neue Fähigkeit in der Zeit zurück zu reisen ist der Dreh- und Angelpunkt sowohl des Gameplays als auch der zentralen Fragestellungen, die hier erkundet werden: was für Entschlüsse würdest du treffen, wenn du sie auch wieder ungeschehen machen und dich umentscheiden kannst? Wie weit kannst du dein Leben kontrollieren, und gegenüber welchen Ereignissen bist du machtlos? In welcher der unendlich vielen möglichen Zeitlinien möchtest du leben?
Diese Fragestellungen passen in die Aufmachung des Spiels als eine coming of age-Geschichte. Weil ihre Eltern mit ihr weggezogen sind, war Max war fünf Jahre lang nicht in Arcadia Bay und wir erfahren nach und nach davon, wie die Dinge früher waren und was sich alles verändert hat. Insbesondere ihre Verbindung zu Chloe lebt neu auf, denn sie ist wie ausgewechselt – aus dem lebensfrohen Mädchen von früher ist eine rebellische Punk-Prinzessin geworden, die von der Schule geflogen ist und sich mit alles und jedem anlegt. Ihre Suche nach Chloes verschollenen Freundin Rachel wird zu einem der zentralen Handlungsstränge des Spiels – bei der gemeinsamen Detektivarbeit merken Max und Chloe schnell, dass einige seltsame Dinge in Arcadia Bay vorgehen und Max hat sogar Zukunftvisionen von einem fürchterlichen Sturm, der Arcadia Bay zerstören wird. Dabei muss Max mit ihren Fähigkeiten zur Zeitmanipulation Chloe (und anderen) übrigens noch mehrmals aus der Patsche helfen, und immer wieder ergeben sich dadurch unintendierte Nebeneffekte. Wer jetzt an den Film Butterfly Effect (2004) denkt, hat eine ungefähre Vorstellung, in welche Richtung die Dinge dabei auch schief gehen können.
Das Spiel lebt enorm von seiner liebevollen, detailreichen Spielwelt. Überall im Spiel lassen sich Objekte untersuchen, die keinen Einfluss auf den Spielfortschritt haben, aber etwas über Arcadia Bay erzählen – insbesondere die Zine-Ästhetik und Riot-Grrrl-Kultur spielen (ähnlich wie in Gone Home (2013)) dabei immer wieder eine tragende Rolle, was der meist ruhige Indie-Soundtrack im Hintergrund zusätzlich unterstützt. Dieses Spiel nimmt sich außerdem wirklich Zeit (pun intended) – immer wieder gibt es Szenen, in denen wir bloß einigen Gedanken von Max folgen, während der Raum in verschiedenen Perspektiven gezeigt wird und nachdenklich stimmt. Die dadurch aufgebaute Atmosphäre lässt Spielenden sehr viel Raum für eigene Theorien und Interpretationen, und hat nicht zuletzt deswegen auf tumblr und Co. eine große Fandom-Gefolgschaft gefunden.
Ja: viele der Szenen sind im wesentlichen wie ein Film und geben nicht viel Möglichkeit zur eigenen Interaktion. Umso spürbarer ist aber, dass anders als in klassichen Adventures hier keine komplett vordefinierte Geschichte abgespult wird, sondern ich immer wieder Entscheidungen treffen darf, die den Spielverlauf auch viele Szenen später noch stark beeinflussen. Es geht dabei teils um Leben und Tod einzelner Figuren, und die Tragweite der eigenen Entscheidungen wird einem teils erst deutlich später bewusst. Was in diesem Spiel zählt ist, was du selbst draus machst, es geht um das Narrativ und das Erlebnis, nicht um ein in der Ferne liegendes Ziel.
Wer eine spielerische Herausforderung sucht, wird von diesem Titel eher enttäuscht – kaum ein Rätsel ist schwierig zu lösen. Dennoch unterscheidet sich das Puzzledesign deutlich von klassischen Adventures, es ist an keiner Stelle der Erzählung im Weg. Das ist nicht zuletzt so, weil die Zeitreise-Mechanik eine clevere Weise ist, das typische Balancing-Problem von Adventures (darüber habe ich vor ein paar Wochen geschrieben) zu beheben: es gibt in einigen Rätseln zwar tatsächlich die Möglichkeit zu scheitern, aber die eigenen Fehlschläge können ja schnell wieder ungeschehen gemacht werden und es entsteht ein echter Feedback-Loop, bei dem die eigene Lösung immer ausgefuchster wird und am Ende endlich alles klappt wie gewünscht. Ich mag so ein bisschen Trial & Error jedenfalls durchaus.
Die Entwickler schaffen es dabei, die verschiedenen Facetten von Max‘ Fähigkeiten sowie deren Grenzen immer wieder kreativ einzusetzen, sodass es nicht langweilig oder repetitiv wird. Und einige der permanenten, sich erst Stunden später auswirkenden Entscheidungen sind wirklich schwierig zu treffen. Und anders als in den meisten anderen Spielen wie z.B. der Mass Effect-Reihe gibt es dabei kaum einen moralischen Unterton, kein erkennbares „gutes“ oder „böses“ Verhalten, sondern echte Zwickmühlen. So bleibt auch die Figur Max stets glaubhaft – sie weiß, dass aus großer Kraft auch große Verantwortung folgt und tut sich sichtlich schwer, im Angesicht ihrer gewonnenen Superkraft das Richtige zu tun.
Es ist übrigens wirklich ungewöhnlich, dass in einem so großen Videospiel eine Frau die Hauptrolle hat. Und dass weder sie noch ihr (ebenfalls weiblicher) Sidekick Chloe eine leicht bekleidete, vollbusige Amazone ist. Das verdanken wir der Penetranz von Dontnod Entertainment, ihre kreative Vision umzusetzen: sie haben vor kurzem offen darüber gesprochen, dass viele Publisher das Spiel abgelehnt haben und nur veröffentlichen wollten, wenn die Hauptfiguren als Männer umgeschrieben würden. Zum Glück ist das nicht passiert, und die weibliche Perspektive ist im von männlichen Superhelden überladenen Markt angenehm erfrischend. Überhaupt sind die die verschiedenen Charaktere eine ganz große Stärke des Titels, denn auch Nebenfiguren wie die eitle Victoria oder Max‘ Lieblingsnerd Warren sind einfach fantastisch geschrieben. Besonders gefiel mir das Spiel mit Klischees: so scheint Warren zu Beginn ein bisschen vom Nice-Guy-Syndrome befallen zu sein, es wird aber zunehmend klar, dass dieser Eindruck trügt und er wirklich ein echter Freund ist, auf den Max zählen kann. Es stellt sich auf ähnliche Weise immer wieder heraus, dass die Klischees nicht zutreffen und hinter den meisten Figuren eine komplexere Geschichte steckt, die wir erst im Laufe der Handlung erfahren.
Eine Besonderheit bei Life is Strange war das episodische Release-Format. Der erste von insgesamt fünf Teilen wurde im Januar veröffentlicht, der letzte Ende Oktober. Ich selbst habe zwar erst im Sommer (nach erscheinen der vierten Episode) mit dem Spiel begonnen, kann aber durch das Warten auf den finalen, fünften Teil sehr gut nachvollziehen, wie viel die Wartezeit zur Spannung um das Schicksal von Chloe und Max beitragen kann. Die Teile fühlen sich in sich sehr gut geschlossen an – ich empfehle euch also sehr, hier kein binge playing zu betreiben und pro Tag nicht mehr als eine Episode zu spielen, damit die Eindrücke richtig wirken können. Das Spiel enhält einige Schlüsselszenen, nach denen ich ohnehin erst einmal eine Verschnaufpause brauchte – besonders die Ereignisse in der Mitte der vierten Episode haben mir einen wirklich krass emotionalen Tritt in die Magengrube verpasst, nach dem ich erst einmal nicht mehr konnte. Dies ist eines dieser Spiele, die euch gleich mehrfach zum Heulen bringen können.
Daher möchte ich zum Ende auch noch eine Inhaltswarnung für euch aussprechen: das Spiel behandelt einige sehr krasse Themen wie Selbsttötung und sexuellen Missbrauch. Was mich etwas stört ist, dass fast ausschließlich Frauen die Opfer dieser Gewalt sind – den männlichen Figuren passiert dagegen meist nur selbstverschuldet etwas Negatives. Immerhin gelingt es den Entwicklern in meinen Augen, diese Themen weitgehend ohne althergebrachten Tropes zu thematisieren und vor allem eine Verarbeitung durch die Betroffenen darzustellen, was empowering ist. Und auch wenn Max ihrer Freundin Chloe mehrfach das Leben retten muss, wird diese niemals eine Damsel in Distress, denn sie ist ohne Zweifel taff und bestimmt außerhalb einzelner Notsituationen über sich selbst.
Für mich ist Life is Strange jedenfalls trotz aller Abstriche und der in der fünften Episode etwas abfallenden Spannungskurve eines der besten Spiele dieses Jahres. Mit derzeit um die 20 Euro für Windows, Playstation 3+4, Xbox 360 + One ist es auch gut verfügbar und relativ erschwinglich, daher mein klares Votum: Leute, diese Reise lohnt sich! Für alle, die es schon gespielt haben: was fandet ihr gut, was hat euch genervt? Bitte passt auf, dass ihr die Kommentare frei von Spoilern haltet!
(Alle Screenshots: Life is Strange (2015), Dontnod Entertainment/Square Enix)