Relevanzkriterien, Schnelllöschantrag, Löschdiskussionen – worum geht’s? Richtig, Wikipedia. Deren Eigenschaft, eine Nachschlageseite von weißen Männern für weiße Männer zu sein, wird bereits seit einem Jahrzehnt viel diskutiert. Grundlegend anders ist die Lage auch heute nicht, denn einige Probleme liegen in der Gestaltung der Wikipedia selbst, genauer gesagt ihren Richtlinien.
Deren Gestaltung ist das Forschungsprojekt Reading Together: Reliability and Multilingual Global Communities (deutsch: Gemeinsam lesen: Zuverlässigkeit und mehrsprachige globale Gemeinschaften) auf den Grund gegangen. Von September 2020 bis März 2021 untersuchten Mitglieder der Arbeitsgruppe Art+Feminism die Richtlinien zu glaubhaften Quellen auf Englisch, Spanisch und Französisch; finanziert von der Initiative WikiCred, die sich für zuverlässige Nachrichten einsetzt. Ihre Ergebnisse haben sie in dem Report Unreliable Guidelines dokumentiert.
Was ist zuverlässig?
Und machen dabei als Erstes eine große Leerstelle sichtbar: Für die Richtlinien, nach denen die gesamte Enzyklopädie gestaltet wird, sind selbst keine Quellen nötig. Während inzwischen jeder Neueintrag nur mit umfangreichen und den „richtigen“ Belegen freigeschaltet wird, liegt der englischsprachigen Richtlinie zu Quellen keine eigene Definition zugrunde oder gar eine wissenschaftliche Einordnung, die auf die geschichtliche und kulturelle Entwicklung des Konzepts „Zuverlässigkeit“ verweist. Während die spanische Richtlinie eine überarbeitete Übersetzung der Seite ist, gibt es auf Französisch keine eigene Richtlinie zu zuverlässigen Quellen – die vorhandene Übersetzung ist lediglich ein Essay ohne offizielle Funktion. Eine deutsche Version der Richtlinie scheint es ebenfalls nicht zu geben. Verlinkt ist jedenfalls keine.
Die weiteren Kritikpunkte dürften allen bekannt vorkommen, die die Wikipedia-Debatten vor zehn Jahren verfolgt haben: Primärquellen, wie Broschüren, sollten ernster genommen werden. Gerade im Kunstbetrieb seien etwa Kataloge eine zuverlässige Quelle. Außerdem ist es bei Frauen bzw. Angehörigen diskriminierter Gruppen oft schwer, Sekundärquellen wie Zeitungsartikel über sie zu finden. Dass diese inhaltlich neutraler seien, sei heute überholt.
Einfach einig?
Ebenfalls problematisch sei weiterhin der Prozess zur Überarbeitung der Richtlinien. Das Erreichen von „Übereinstimmung“, die dafür notwendig ist, wird in Wikipedia tatsächlich als „natürlicher Prozess“ beschrieben, der außerdem „normalerweise unsichtbar“ ablaufe. Solange es keinen Widerspruch gebe, könne schließlich von Übereinstimmung ausgegangen werden. Schweigen als Zustimmung zu werten, sei aber problematisch, so der Report. Viele Menschen wüssten gar nicht, dass die Richtlinien selbst ständig verändert werden können. Andere trauten sich nicht, Änderungen vorzuschlagen – manchmal bereits, weil sie von der Bearbeitungsoberfläche überfordert seien.
Dabei sei die Überarbeitung der Richtlinien nötig, wofür es im Report auch gleich einige Empfehlungen gibt. Eine interdisziplinäre Taskforce sollte etwa den sehr westlichen Fokus auf Zuverlässigkeit aufheben und die geschichtliche und kulturelle Kritik daran einarbeiten. Für bisher verpönte Quellen wie Kataloge oder Blogs sollte es spezifische Richtlinien geben und das Einbinden von Wissen aus diskriminierten Gruppen leichter werden. Eine weitere Taskforce müsste überarbeiten, wie „Übereinstimmung“ als Prozess aussehen sollte. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Trainer_innen, die bei Veranstaltungen oder im direkten Mentoring für Neulinge da sind. Sie selbst sollten besser unterstützt werden.
Vorbild für die Relevanz
Im deutschsprachigen Raum konzentriert sich die Diskussion weniger um belastbare Quellen, eine Richtlinie fehlt eh, sondern eher um die Relevanzkriterien. Zuletzt war dies im Februar deutlich, als drei österreichische Wissenschaftlerinnen gleich wieder gestrichen werden sollten. Die Empfehlungen des Reports könnten dennoch locker übertragen werden. Die Kritik, wer Relevanz erreicht oder erreichen kann, ist ähnlich gelagert wie bei der Frage nach Neutralität in Quellen.
Dass nach über 10 Jahren Diskussion immer noch solch grundlegende Veränderungen notwendig sind, ist am Ende aber ein enttäuschendes Zeichen für das größte Nachschlagewerk der Welt.