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Geschlecht und Manga (Teil 1)

Unsere Gastautorin Kristin ist zurzeit Doktorandin der Germanistik und schreibt ihre Dissertation über den japanischen und deutschen shôjo manga. Dieser Gastbeitrag ist der erste von dreien, in denen sie aufzeigt wie in diesen Mangas mit der Kategorie Geschlecht gespielt wird.

Geschichten mit phantastischen Elementen gehören seit Jahren zu den beliebtesten Stoffen nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen: Insbesondere bei den jungen Leser_innen  sieht Bernhard Rank die Beweggründe im Bedürfnis „nach dem ‚Abtauchen‘ in eine andere Welt, nach der Identifikation mit bewundernswerten Heldenfiguren und nach einer spannungsgeladenen Handlung“, die sich im phantastischen Rahmen „leichter befriedigen“ lasse sowie im „Verlangen nach einer imaginativen Entlastung angesichts der problemgeladenen Unübersichtlichkeit der postmodernen Welt“.

Dies trifft insbesondere auf japanische Schüler_innen zu; das japanische Bildungsystem gehört zu den anspruchvollsten und repressivsten Bildungswegen überhaupt. Phantastische Geschichten gehören daher auch im Manga zu den beliebtesten Stoffen – bieten sie doch eine Form des zeitweisen Eskapismus aus einer hochdisziplinierten Öffentlichkeit und dem damit einhergehenden, omnipräsenten Leistungsdruck.

Insbesondere für weibliche Teenager stellt das Mangalesen einen wichtigen Ausgleich für die alltägliche Realität dar; 81% aller japanischen Mädchen im Teenager-Alter lesen regelmäßig Manga. An dieser Stelle sei erläutert, dass die japanischen Comics bei ihrer Erstpublikation zunächst anhand von Alters- und Geschlechtergruppen kategorisiert werden. Sieht man von speziellen Publikationen für kleinere Zielgruppen ab, lässt sich die Mehrheit der Adressaten in shônen manga für Leser und shôjo manga für Leserinnen zwischen 10 und 18 Jahren unterteilen. In meinem Text möchte ich mich auf die shôjo manga für Mädchen und junge Frauen konzentrieren.

Diese Werke zeichnen sich durch ihr hohes Identifikationspotential aus, das sie anhand ihrer spezifischen formal-ästhetischen Darstellungskonventionen und narrativer Formen erschaffen, und das den Leserinnen ermöglicht, in ihrer Phantasie bei der Rezeption all das zu erleben und Freiheiten auszunutzen, die ihnen in der Realität verwehrt bleiben. Dies bezieht sich nicht nur auf das Erleben spannender Abenteuer in phantastischen Welten oder romantischen Liebesgeschichten, sondern gerade auf die Rolle der Frau und reproduzierte Geschlechterstereotypen.

Es ist daher nicht überraschend, dass sich eine Vielzahl der Mädchenmanga mit Gender Bending oder Cross-Dressing auseinandersetzen. Als einer der primären Gründe für den hohen Beliebtheitsgrad dieser Motive werden häufig die Rolle der Frau in der patriarchal geprägten japanischen Gesellschaftsstruktur und die dominierenden Geschlechterstereotypen angenommen, die in Form der Identifikation mit den geschlechterwandelnden Figuren zumindest im eskapistischen Sinne unterminiert werden können.

Bevor ich zwei populäre Werke des Genres in den folgenden Texten genauer auf ihre Repräsentationen des wandelnden Geschlechts untersuche, möchte ich einen kurzen historischen Abriss zur Entstehung dieses Motivs im Manga geben.

Gender Bending und Cross-Dressing haben innerhalb der schönen Künste Japans eine lange Tradition, deren Ursprung im kabuki-Theater des 17. Jahrhunderts verortet werden kann. Beide Motive zeigten sich bereits in der Entstehungszeit des modernen Mädchenmanga.

Als erster narrativer shôjo manga wird in der Regel Tezuka Osamus Ribon no Kishi von 1953 genannt: Erzählt wird die Geschichte der jungen Prinzessin Saphire, die als Mädchen zur Welt kommt, jedoch von einem Engel bei ihrer Geburt ein männliches und ein weibliches Herz erhält, um Sanftheit und Mut zu vereinen. Um das Erbe des Königs anzutreten, verkleidet sie sich als Junge und verhält sich betont geschlechterstereotyp männlich. Nachdem ihre Tarnung durchschaut wird, entreißt ihr der Engel das männliche Herz, sodass sie den Prinzen des Nachbarlandes heiraten kann.

Hier spiegeln sich klassische Motive des Mädchenmanga, darunter die vermeintliche Bisexualität der Protagonistin, Androgynität und „geschlechtliche Ambivalenz als Gegenstrategie zur Wirklichkeitsnorm“. Weitaus eindeutiger wird diese Thematik in Riyoko Ikedas Versailles no Bara aus dem Jahr 1972 behandelt, das als Wegbereiter des Gender Bending im Manga gilt und erstmals Gesellschaftskritik an Geschlechterstereotypen und der Abwertung von Frauen übte.

Oscar Francois de Jarjayes, geboren als Mädchen, jedoch als Junge aufgezogen, steht im Dienste der königlichen Schlosswache am Hof von Versailles und agiert als Beschützerin der jungen Marie Antoinette. Zwar verlieben sich beide Frauen in Männer, doch finden sich in diesem Historiendrama um die französische Revolution auch homoerotische Momente zwischen Oscar und Marie Antoinette.

Miriam Brunner schreibt, dass Ikeda „ihre Protagonistin eine männliche Identität annehmen [lässt], um auf diese Weise Gender-Konventionen als gesellschaftliche Konstruktion zu entlarven“ (ebd. S. 182); es bleibt jedoch aufgrund der weiteren Entwicklung der Handlung zu hinterfragen, ob die These de Beauvoirs – „Man wird nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht“ – tatsächlich im Sinne Ikedas gewesen ist. So betont Oscar stets, dass sie eine Frau ist und leugnet dies lediglich vor ihrem Vater. Es ist anzunehmen, dass Ikeda primär die Machtgefälle zwischen Mann und Frau kritisieren, nicht aber eine tatsächliche Dekonstruktion des (biologischen) Geschlechts anstreben wollte. Dennoch kann die Figur der Oscar als Wegbereiterin des Gender Bending-Motivs und der Homo-/Bisexualität im shôjo manga verstanden werden; auf dem gegenwärtigen Stand gibt es zahlreiche differenzierende Werke, die sich sowohl in einem phantastischen als auch im realistischen Rahmen mit „gender ambiguity“ auseinander setzen.

Im zweiten Teil des Textes wird die Autorin den Manga After School Nightmare analysieren. Im dritten Teil wendet sie sich dem Manga Angel Sanctuary zu und fasst ihre Erkenntnisse zusammen. Der zweite Teil erscheint am 25. Oktober.

10 Antworten auf „Geschlecht und Manga (Teil 1)“

Ein toller Artikel :D
Ich selber habe ewig lange diverse Manga aus unterschiedlichen Genres gelesen (sowohl Shonen als auch Shojo) und mir ist das „Geschlechterzusammenschmeißen“ auch (wohlwollend) aufgefallen. Was ich schade finde ist, dass in den meisten Fällen letztlich die Protagonistin am Ende trotzdem vom „Helden“(!) gerettet wird..
Was mich noch mehr nervt sind die Frauenrollen in von der Stroy manchmal wirklich großartigen Shonen-Mangas (zB „One Piece“), die mit der Zeit immer sexistischer werden.. >__<
Ich bin sehr gespannt und freue mich auf die folgenden Teile dieser Artikelserie!
Liebe Grüße,
Janne.

Vielen Dank für dein feedback! ^^

Dass im shôjo manga so häufig die Protagonistin doch noch von einer männlichen Figur gerettet werden muss (nicht selten sogar mehr als einmal – ich hab da ganz gruselige Beispielwerke gefunden!), ist mir bei der Analyse in meiner Diss auch extrem negativ aufgefallen. Ehrlich gesagt war mir das vor der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Medium gar nicht so bewusst… es ist schon leider eher selten der Fall, dass sich Junge und Mädchen in den Werken auf Augenhöhe begegnen. :( (Interessanterweise sind die Mädchen-/Frauenbilder in den deutschen Manga größtenteils tatsächlich progressiver!)

Aber wie du selbst schreibst, ist das im shônen manga ja meistens noch schlimmer. One Piece hab ich nach etwa Band 20 abgebrochen, aber ich verfolge noch immer Bleach und lese eigentlich auch echt gern Bakuman, aber gerade bei letzterem ist das Frauenbild zuweilen wirklich grausam. (Dazu auch sehr interessant: http://hoodedutilitarian.com/2012/09/i-hate-you-because-i-love-you-shonen-jump-boys-club-edition/)

Angel Sanctuary und After School Nightmare sind da tatsächlich zwei positive Beispiele aus dem Mainstream. :) Falls du noch weitere Empfehlungen in die Richtung hast, nehm ich sie gern an!

Liebe Grüße,
Kristin

Der Artikel war ursprünglich ein Vortrag an der Uni Zürich über Gender Bending im phantastischen shôjo manga – da passte Hana Kimi (das ich übrigens auch sehr mag!) leider nicht rein. Allerdings wäre ein Artikel über Gender Bending in der klassischen Schulkomödie auch eine interessante Idee… :) Beispielwerke dafür gibt’s ja en masse. Dank dir für die Anregung!

Hallo Kristin,

ich selber hab auch schon in dem Bereich Manga/Anime geforscht (bin aber in erster Linie Historiker), aber ich kann mich leider nicht der Theorie der Unterwanderung von Geschlechternormen anschließen.

Könnte es nicht aus sein, dass von der Norm abweichende Geschlechtertypen nicht eher das Bewusstsein einer „Normalität“ verstärken? Das Ausleben und Vorstellen innerhalb von Manga-Buchdeckeln hat leider noch nicht dazu geführt, dass sich hier in der Realität etwas verändert hat.

Japan ist immer noch stark patriarchalisch. Geschlechterstereotypen sind bei Männern wie Frauen fest verankert. Daher glaube ich eher, dass es mehr auf das Ventil hinausläuft, durch das man sozialen Druck ablassen kann, wie Du auch sagtest. Und genau das führt aber leider nicht zu einer Unterwanderung des heteronormativen, patriarchalischen Denkens, sondern es scheint eher ein Vehikel zu sein, eine kritische Befassung mit der Realität zu umschiffen.

Was wäre Deine Meinung dazu?

Hallo Kenji,

lieben Dank für deine Rückmeldung!

Ich sehe das ähnlich wie du; im Fazit bzw. in den Analyseteilen gehe ich auch noch ein wenig darauf ein. Für meinen Vortrag in Zürich hatte ich bewusst zwei Beispiele genommen, die etwas von der Norm abweichen – denn insgesamt ist der shôjo manga ja schon eher affirmativ, was Geschlechterstereotype angeht, die Abweichungen werden immer stark verdeutlicht.
Gerade in After School Nightmare und auch in Angel Sanctuary sehe ich aber eine ziemlich starke Kritik an diesen Normen und insbesondere in ASN auch eine deutliche Kritik am patriarchalen Japan (auch durch die Entscheidung der Protagonistin für die weibliche Rollenidentität). Aber wie gesagt – das Werk halte ich für eine enorme Ausnahme.

Ob die Manga in der Realität ein Umdenken bewirken können… das ist tatsächlich schwer zu bewerten (v.a. da ich selbst nie in Japan war und das daher noch schwerer einschätzen kann). Aber dass ein solches Ventil existiert, zeigt ja zumindest das Bedürfnis und ist sicherlich für die ein oder andere Leserin (eben im eskapistischen Sinne) wichtig und hilfreich, und kann sich somit (in Grenzen) auf ihre Realität auswirken.

Insgesamt stimme ich deiner Annahme aber auf jeden Fall zu und komme in meiner Diss auch zum gleichen Ergebnis. (Umso spannender ist übrigens der Vergleich japanischer & deutscher shôjo manga – da zeigen sich doch deutliche Unterschiede im Frauen- und Männerbild!) Falls du daran Interesse hast, könnte ich dir die Diss (bzw. mein Gender-Kapitel) gern zuschicken, sobald sie fertiggestellt ist. :)

Liebe Grüße,
Kristin

Liebe Kirstin,

ich habe meine Magisterarbeit über Gender-Modelle in Shojo Manga, am Beispiel von CLAMP, geschrieben. Ich teile deine Deutungsweise der Figur der Lady Oskar, auch ich sehe darin eher eine Überbrückung von gesellschaftlichen Konventionen denn von einer Dekonstruktion.
Mich würde interessieren, wie du Funktion des Shonen Ai einordnest, besonders im Vergleich Deutschland/Japan. Gerade hierzu kann man ja die abenteuerlichsten Aussagen lesen.
Für mich stellt der, auf den ersten Blick als Schutzraum erscheinende, Bereich des Shojo Manga nur eine Phase dar, die dazu dient, pubertäre Mädchen an die harte Realität des japanischen Rollenbildes zu gewöhnen (es ist ja doch immer der Mann, der am Schluss die Rettung verheißt). Die Frage ist dann aber, wie sich das mit deutschen Shojo Manga verhält, da in Deutschland, trotz allen herrschenden Genderunterschieden, die Grenzen doch deutlich weicher verlaufen. Deine Meinung hierzu würde mich interessieren.

Gruß
Mechthild

Liebe Mechthild,

vielen lieben Dank für deine Rückmeldung. :) Deine Magisterarbeit würde mich sehr interessieren, da ich zum shôjo manga in Deutschland nur sehr wenig (tiefergehende) Sekundärliteratur finden konnte. Es wäre super, wenn du sie mir an kristin_eckstein[at]t-online.de schicken könntest!

Was Boys‘ Love angeht: Ja, da gibt es schon wahnsinnig viele Thesen und viele Aussagen (v.a. diese psycho-analytischen, die Leserinnen pathologisierenden – nach dem Motto „Die Leserinnen sind Männer, geboren in Frauenkörpern“ und „Frauen wollen Männer leiden sehen“); die teile ich nur bedingt bzw. gar nicht. Deine Vermutung, dass es einen Schutzraum für die Adoleszenz darstellt, finde ich auf jeden Fall interessant und ich kann mir gut vorstellen, dass das durchaus einer von vielen Gründen ist. (Inwiefern BL die Mädchen an das Rollenbild gewöhnt, verstehe ich aber nicht ganz – könntest du das noch erläutern? Spielst du damit auf die uke/seme-Einteilung in den Beziehungen bzw. die Homonormativität an?)
Einer der meistgenannten Gründe ist ja die Abgrenzung von der überstrapazierten heteronormativen Romanze zwischen Mann und Frau, und gleichermaßen eben die patriarchale japanische Gesellschaftsstruktur. Ich denke, dass das durchaus zur Entstehung des Genres in den 1970ern beigetragen hat, aber inwiefern das gegenwärtig noch gilt… da bin ich unsicher.

Für Leserinnen jeglichen Alters halte ich die sexuelle Gratifikation eigentlich für einen der wichtigsten Gründe (Stichwort: fujoshi). Um Mark McLelland zu zitieren: „[…] few people react with surprise to the fact that male pornography is full of ‚lesbian‘ sex. If heterosexual men enjoy the idea of two women getting it on, why should heterosexual women not enjoy the idea of two men bonking?“ :)
(Generell kann ich dir McLellands Aufsätze empfehlen, wenn du dich näher mit BL beschäftigen möchtest, er hat da viele interessante Ansätze.)

Und das gilt dann gleichermaßen für Mädchen und Frauen international: Ich glaube, vielfach steht gar nicht der Wunsch nach Subversion bei der Lektüre im Vordergrund, sondern einfach die Begeisterung für Romanzen/sexuelle & erotische Szenen zwischen zwei Männern, weil das durch diese Atmosphäre des „Verbotenen“ soviel spannender erscheint…
Das würde zugleich auch erklären, aus welchem Grund die Leserinnen nicht selten so misogyn (im Allgemeinen und/oder gegen weibliche Figuren in Manga/tv shows) eingestellt sind. Generell würde ich die Rezeption bzw. das Zeichnen von BL-Manga keinesfalls automatisch als politische Äußerung verstehen und mit Toleranz für Homosexualität gleichsetzen.

Mmh, das war jetzt ein bisschen wirr und ich bin mir nicht sicher, ob das deine Frage beantwortet hat? :( Ich könnte dir gern noch ein paar Quellen nennen, die sich tiefer mit der Materie beschäftigen und das vielleicht etwas besser erklären als ich hier…

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